Ausschlafen war am Sonntag nicht, die Tour noch in den Beinen ging’s um 9 Uhr zur Metro von Viña del Mar die drei Stationen nach Valparaíso. Eine schöne neue Bahn war das, die uns direkt zur Hafenpromenade gebracht hat. Die Kerschers haben uns einen eigenen Stadtführer gebucht, der sogleich in schnellstem Spanisch begann uns den Hafen zu erklären (ich habe die Theorie aufgestellt, dass gebürtige Spanischsprecher ein Gen haben, das ihnen erlaubt einen hohen Prozentsatz des zum Leben nötigen Sauerstoffs durch die Haut aufzunehmen). Auf dem Pier ging’s ordentlich zu weil ein Triathlon entlang des Hafens stattgefunden hat. Feine Sache, vom Radl runter und rein in den Neoprenanzug um zur nächsten Boje und zurück zu schwimmen, was im kalten Humboldtwasser vom Hafen definitiv kein Familienausflug ist! Der Blick auf die Stadt entschädigt aber für alles!!! Valpo (so sagt man das als einer der sich hier auskennt! 🙂 ) liegt in einer großen Lagune, die sich nach Norden öffnet, nicht wie andere Städte hier in der Ebene, sondern viel mehr wie Rom auf ein paar Hügeln. Der Chilene zählt gut 40 davon und sagt dies auch stolz mit Referenz zur ewigen Stadt. Valpo scheint nicht ewig zu sein. Die zahlreichen Erdbeben die die Stadt seit ihrer Gründung 1544 durch die Spanier zerstört haben, sorgten für steten Baufluss. Das letzte Erdbeben in den 1980ern hat noch einmal vielen alten Gebäuden den Rest gegeben. Wer jetzt aber denkt Valpo wäre ein Mekka moderner, ewig gleicher Fertigbaukunst der irrt sich gewaltig. Valpo ist nicht wie andere Städte, schon gar nicht wie andere chilenische Städte und Häuser aus der Kolonialzeit gibt es auch noch! Wo sonst der geplante Stadtbild mit Hauptplatz im Zentrum und parallelen Straßen rund herum vorherrscht, vergleichbar mit einem karierten Blatt aus der Grundschule (ungelocht ohne Rand 😉 ), ist Valpo vergleichbar mit einem eben solchen Blatt, dass man zerknüllt und an manchen Stellen eingerissen hat und sodann darauf wartet, dass es sich von ganz alleine wieder ein Stückchen auffaltet. Das kommt an einem Stadtplan Valpos sehr nahe. Die Stadt ist bereits sehr früh aus der spärlichen Lagunenfläche die einzelnen Hügel hinauf gekrochen. Da wo Platz war wurde gebaut (zerknüllte Kästchen), dort wo kleine Rinnsale die Hügelflächen eingeschnitten haben und so zwei Hügel von einander getrennt haben, wohnt und baut niemand (Risse und Falten im Papier). So wurden über die Jahrhunderte einer nach dem anderen alle Hügel bebaut so dass heute rund 300.000 aus ihren Häusern mehr oder minder gut auf die Stadt und ihren Hafen blicken können.
Wir gehen vom Hafen in Richtung Marktplatz durch ein Bauhausstilviertel aus den 1920ern. Gebaut für die Professoren der einst namhaften Uni nebenan ist es heute etwas verkommen aber nicht unansehnlich. Die Runden Formen der Häuser mit ihren bunten Farben passen sehr gut in das quirlige geschehen zwischen Hafen und Markt. Der Markt selbst ist in auffälligem gelb und Rottönen gehalten, deren schwarze Abgas- und Schmutzränder mich irgendwie an Deutschland während der WM erinnern, komisch die Assoziation ich weiß. Innen drin ist man wie in einer anderen Welt. Händler preisen brüllend ihre Waren an, Hunde und Katzen schlafen und streunen wie es ihnen passt durch die engen Gänge, alle Ladenabteile sind durch Gitter verschlossen. Der Markt hat eben geöffnet, noch ist also kaum was los. Das Marktgebäude ist wie ein Kolosseum, hoch, rund und laut. Eine Kombination aus Ziegel und Stahlkonstruktion, die an den Eiffelturm erinnert, kein Wunder der gute Gustav Eiffel hat ja auch hier so einiges (neben Marktplätzen) gebaut bevor er Paris eine Sehenswürdigkeit verpasst hat. Im oberen Stockwerk des Marktplatzgebäudes finden sich kleine Imbissbuden und Restaurants, es ist schön da oben man hört den Markt und sieht ihn während man seine Köstlichkeiten (sofern es der Magen erlaubt) essen kann. Vor dem Haus ist auf der Hauptstraße ein Straßenmarkt. Wir gehen durch und biegen irgendwann nach links ab zu einem der Hügel. Hier zeigt Valpo seinen wahren optischen Schatz: die vielen kleinen bunten Häuser. Ein Traum in Wellblech! Wirklich wahr. Das soll nicht geringschätzig wirken. Valpo ist eine einziges Postkartenmotiv, wo man hinschaut die Ästhetik des Niedergangs. Das Wellblech ist an sich schon sehenswert, aber oft ist es hier auch noch etwas heruntergekommen und verwahrlost, ohne zu ärmlich oder gar ernsthaft hässlich zu wirken. Ein ganz eigener Stil, der durch das Spiel der bunten Farben bzw. deren fehlen zum Leben erwacht. Man kann sich nicht genug sehen an dieser Stadt. Wo man hinsieht ist sie anders, niemals gleich. Eine echte Augenweide, die ich nicht zu beschreiben vermag, leider.
Um die Hänge hoch zu kommen haben die Bewohner schon früh Aufzüge gebaut, die am Kamm entlang nach oben bzw. unten fahren. Für ca. 100 Peso fährt man mit. Wir nehmen den einzigen unterirdischen Aufzug der Stadt. Er ist in einen ehemaligen Stollen untergebracht. der Blick von oben spottet jeder Beschreibung. Ein Meer aus bunten Häusern, eins aus Pazifik und eines aus Wellblech. Wieder läuft der Foto heiß. Aber warum Wellblech überall? Als der Kupferexport Chiles via Valparaíso Hochkonjunktur hatte, brachten die Schiffe billiges Wellblech als Ballaststoffe mit nach Valpo, welches hier entladen wurde bevor die Schiffe voll mit Kupfer die Heimreise antraten. Daher also Valpos Reichtum an Wellblech. Überall billig verfügbar wurde es zum einfachen Baumittel ebenso einfacher Leute. Die Reichen bauten weiterhin mit Steinen. Heute ist vom Glanze Valparaísos nicht mehr so viel vorhanden. Der Panamakanal und die Diktatur machten der Stadt und seinen Einwohnern schwer zu schaffen. Heute erholt sie sich sichtlich. Wo man früher nur die übrige Schiffsfarbe an die gammligen Wellblechwände geschmiert hat, verkünstelt man sich heute mit Absicht. So kamen und kommen Farbkombinationen zustande die man so im Kunstunterricht nicht als Komplementärkombinationen gelernt hat, besonders zumal sich hier die Nachbarn nie abzusprechen scheinen. Aber genau das macht den Reiz der Stadt aus. Und genau so wird die untypischste Stadt Chiles doch zu einer unverwechselbar chilenischen Kulturmanifestation: der (hoffentlich noch nicht allzusehr überstrapazierte Begriff) Gegensatz ist der Schlüssel. Während sich in Santiago und überall sonst Arm und Reich nach Vierteln trennen, leben sie hier noch relativ gemeinsam nebeneinander (eine grobe Aufteilung nach Hügeln ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, jedoch bei Weitem nicht so extrem wie anderswo). Hier hat man renovierte neben verkommenen Häusern, Wellblech neben Stein. Giftgrün neben Grau oder Lila. Egal wo man hinkommt, immer das gleiche Prinzip, aber immer andere Wirkung mit dem Ergebnis, dass man sich nie traut die Kamera wegzustecken und wenn man mit dem Minibus die engen Strassen entlang schießt, fühlt man sich wie im Traum. Immer glaubt man etwas Wundervolles gesehen zu haben, das im nächsten Moment noch schöner wird, dann aber genauso schnell verschwindet wie es aufgetaucht ist nur um vom nächsten Wunderbaren gefolgt zu werden und am Ende der Fahrt steigt man aus wie man morgens aufsteht: Man wundert sich, hab ich das eben wirklich gesehen? War das echt? Wie war es überhaupt? Und schon hat man es vergessen, weil man zwischen zwei bunten Häusern den Hafen und das Meer sieht, die Kamera raus zieht und nach dem perfekten Winkel für das nächste Foto sucht. Ihr glaubt gar nicht welch geniale Sachen ich gesehen hab, ich tu‘ es ja selbst nicht und mit Fotos beweisen kann ich es leider nicht, weil ich im Entscheidenden Moment zu langsam war. Oder war es Traum?
Egal, Paolo Neruda jedenfalls war sich Valparaísos magischer Musenwirkung absolut bewusst, weshalb der Schriftsteller bereits lange vor dem Gewinn des Nobelpreises eines seiner drei Häuser hier baute. Beste Sicht der ganzen Stadt. Unbeschreiblich! Aber auch das Haus selbst ist ein Leckerbissen der Architektur. Neruda liebte Schiffe und das Meer, obwohl er selbst nie gerne mit dem Schiff fuhr. Sein Haus „La Sebastiana“ ließ er daher bauten wie ein Schiff. Vierstöckig, mit sehr engen Gängen, in denen man zu unweigerlich wanken beginnt, ohne dass die Erde bebt. Der Schiffscharakter ist definitiv spürbar. Und immer kleine Ticks, wie eine Treppe die um die Kurve an die Wand führt oder ein Waschbecken, das nie einen Wasseranschluss hatte. Mit jedem Stock wird die Aussicht über Stadt und Hafen auf die tiefblauen Weiten des Pazifik immer noch genialer und atemberaubender. Dazu nie zu enden scheinende Details wie ein goldenes Heiligenbild neben einem goldenen Szene asiatischer Bauern. Kitsch, klar, aber die beiden hängen nebeneinander als seien sie vom selben Künstler! Gleiche Masse, gleiche Farbe, gleicher Stil – aber fundamental andere Kultur!
Schwer beeindruckt verlassen wir Nerudas Heim und nehmen einen Ascensor (die typischen Seilbahnen) runter von diesem Hügel. Immer noch die gleiche Konstruktion und ein und dasselbe Material von 1910 wohlgemerkt!!! Unten angekommen geht es vorbei an kleinen Krimskramsläden durch geschäftige Straßen zu einer engen, unsicher aussehenden Gasse. Am Ende der von Graffitis übersäten Häuserschlucht erwartet uns ein ehemaliger Militärclub. Zu Pinochets Zeiten nur von den obersten Militärs besucht hat sich das Lokal in den letzten 10 Jahren um 180 Grad gedreht. Der kitschige Pomp von früher steht noch immer in mit Edding verschmierten Vitrinen, die Farbe an der Wand unter den Schmierereien und zahllosen Zetteln kaum noch zu erkennen. Der Laden ist randvoll mit Leuten. Ein unheimlicher Lärm. Man kommt kaum durch die Reihen, denn wo Platz ist, steht ein Tisch oder zumindest ein Stuhl. Das Restaurant ist immer so voll, von Öffnung bis Zapfenstreich! Die Leute warten auch gern stundenlang auf einen Platz. Am Essen kann das kaum liegen, denn es gibt nur ein Gericht (Fleisch auf Pommes mit Zwiebeln und Chilisoße) und das eben nur in verschiedenen Größen. Es ist das absolut unvergleichliche Flair. Ich sage das mit voller Überzeugung: Ich weiß sicher, dass ich noch nie in meinem Leben in so einem atemberaubenden, die Sinne überflutenden Lokal war und ich bin mir 100%ig sicher, dass ich so etwas NIE wieder erleben werde!!! Absolut unbeschreiblich, mir fehlen auch fast eine Woche nachher noch die Worte. Ehrlich. Man muss es gesehen haben und man muss es vor allem gehört haben. Wie aus dem nichts taucht plötzlich ein alter Mann mit Baskenmütze und Gitarre auf und begleitet seine Folkloregesänge, allesamt Liebeslieder auf Valpo oder Chile. Das verzückt die Einen und lässt die Anderen kalt, wie man es eben zu seinem Essen gerne hat. Ein Wahnsinn, so cool, dass ich leider nur ein Bild machen konnte. Manche Sachen sind eben zu überwältigend um noch Bilder zu machen.
Man kann sich in Valparaíso nie so ganz sicher sein was gerade abgeht. So etwa als ob man beim morgendlichen Weg zum Kühlschrank versehentlich mit dem einen Fuß in ein alternatives Universum getreten ist. So fahren hier Stadtbusse aus den 1940ern und früher! Wer innen genau schaut, erkennt auch noch alte Hinweistafeln in Deutsch oder Französisch, Englisch oder sonstwas, das kommt immer auf den Bus und dessen Herkunft an. In Valpo hat man nämlich seinerzeit alle Restbestände aus sämtlichen europäischen Metropolen aufgekauft und durch die Diktatur gebracht. Musste man auch, weil das Geld knapp war. Heute ist wieder etwas Geld da und weil man hier sehr Umweltbewusst ist, hat man alle Busse inzwischen mit Elektroantrieb nachgerüstet! So fahren diese Schiffe noch heute, wie Straßenbahnen am Netz, durch die Stadt. Was erzählen hier bloß die Opas ihren Enkeln? „Früher sind wir noch mit ganz anderen Bussen gefahren“ jedenfalls nicht! 🙂
Durch malerische Viertel/Hügel geht es weiter, vorbei an der ehemaligen Deutschen Schule (nach einem Erdbeben nur noch als Ballsaal nutzbar), englischen und deutschen protestantischen Kirchen (die englische ist älter und durfte deshalb keinen Turm haben, damit sie nicht so auffällt im katholischen Chile! Minarettdiskussionen in Deutschland lassen grüßen) und allerhand Cafés. Man fühlt sich wie am Mittelmeer! Valpo ist was das angeht eh ein einzigartiger Hybrid: Hier leben Engländer, Deutsche, Franzosen, Holländer und Italiener (in dieser Reihenfolge der Menge) nebeneinander und das schon seit über hundert Jahren!!! Ein früher Prototyp der EU möchte man meinen. Funktionierte auch sehr gut, wenn man heftigste Spitzelaffären während der Weltkriege mal außen vor lässt. So geht man am Casa Heidi die Calle Schmidt entlang, biegt ab in die Calle Brighton dort ist das Menoiré Atkinson an der Ecke Brighton/Hochstetter. Mal eine etwas andere und, wie ich finde, sympathischere Art des Globalen Dorfs als McDonalds & Co.
Zu Guter letzt haben wir dann noch eine Bootsrundfahrt durch den Hafen gemacht. Allein das Aushandeln mit welchem Boot man fährt ist die Anstrengung wert. Hier wird gebrüllt, gezerrt und abgedrängt. Auf dem Festland sieht es ähnlich aus. Aber der Blick fasst den Tag noch einmal eindrucksvoll zusammen. Die satten Farben der Stadt in vollen Umfang vom Meer aus, zwischen Seelöwen und Marinekreuzern (den Holländern abgekauft und modernisiert, die Seelöwen sind einfach so da!). Völlig ermüdet und mit schlaffen Beinen geht es zurück zur Metro. Was für ein Tag! Kann es kaum erwarten mal wieder nach Valpo zu fahren…