Wie im letzten Beitrag beschrieben, lebt Chile von seinen Gegensätzen. Nun mal zur weniger schönen Seite hier. Während ich mit Gustavo, einem unglaublich netten Anwalt den ich über Michael Peller kennen gelernt habe und der mir die Herberge empfohlen hat und mir viele wirklich hilfreiche Tipps gegeben hat (dieser lange Satz ist Deutsch für „vielen, vielen Dank! Hast was gut!“ 🙂 ), die schönen Seiten Santiagos sehen durfte, hat mir Gorki, ein in Schweden lebender chilenischer Schauspieler und Filmemacher den ich im Flugzeug kennen gelernt hab (auch dieser Satz impliziert selbiges wie der vorherige, toll die deutsche Sprache, oder?), die Schattenseiten gezeigt. Bitte entschuldigt den langen Satz, ich würde die beiden gerne mehr würdigen für alles was sie für mich getan haben, aber ich will euch auch nicht langweilen und deshalb erschien mir diese deutsche Spezialität eines komplexen Satzes angebracht! 😉
Ich könnte jetzt wieder in der Innenstadt anfangen, wo Straßenkünstler, wie Clowns und Maler, neben Überlebenskünstlern, wie Schuhputzern und Bettlern mit beiden Beinen amputiert, um die Aufmerksamkeit der zahlreichen wohlhabenden Passanten ringen. Aber ich fange bei den „echten Chilenen“ an, wie es Gorki sagte. Er hat mich zu seinem Vater eingeladen, bei dem er während seinem Besuch unterkommt. Mit der Metro geht es nicht die bequeme Ost-West-Linie 1 entlang, sondern die Nummer 2 in den Süden. Von Station zu Station wird es ärmer, das sieht man den Leuten und den Häusern an. Von der Haltestelle „Ciudad del Niño“ sind es rund 10 Minuten durch ein Wohnviertel in dem kaputte Gehsteige und hohe Mauern und Zäune die Schlaglöcher und Risse der „Straße“ säumen. Hier wohnen noch Leute mit Geld, bitte nicht falsch verstehen! Deshalb ja auch die Mauern und Zäune bis zum 1. Stock hoch. Die Nachbarschaft ist NICHT schlimm!!! Eher normal hier sagt Gorki. Nummer 1613 hat eine besprayte löchrige Mauer, die Hausnummer ist mit Bleistift in den Putz geritzt, Klingel gibt es keine. Gorkis Vater öffnet mir die Tür, er freut sich unter seinem dicken grauen Bart sichtlich, rückt sich die Hornbrille zurecht, sehr vorsichtig weil sie nur noch einen Bügel hat, und bittet mich mit förmlichen Gesten herein in den kleinen, von allen Seiten zugewachsenen Vorgarten. Der strahlende Sonnenschein wird von den vielen dicken Blättern verschlungen und es ist plötzlich wie in Augsburg im Herbst, nur sehr, sehr warm! Ein verrosteter Wagen aus den 1950ern steht vorm Haus, er steht da schon länger als die Bäume zwischen ihm und der Mauer und er wird da auch noch stehen bis Bäume und Mauer wieder weg sind, wenn ihr versteht was ich meine. Im Haus geht es durch das Wohnzimmer, vorbei am Schlafzimmer in die Küche. Gorkis sagt sein Vater baue dieses Haus seit 50 Jahren, es sagt das weil ich meine Überraschung über die fehlende vierte Wand in der Küche nicht so gut verstecken konnte wie höflich gewesen wäre. Während Gorkis Vater Wasser aus einer Flasche auf den Betonboden schüttet um den Staub aus der Luft zu halten, sagt mir Gorki wo es gleich hingeht. Kurz darauf hält mir Gorkis Vater wie ein Bediensteter im Sterne-Hotel die Autotür auf – habe ich schon erwähnt, dass Chile ein Land krasser Gegensätze ist? Wollte es nur noch einmal gesagt haben. Die Fahrt geht durch die Nachbarschaft in noch ärmere Viertel. Gorki versichert mir, das ist alles sicher, in die schlimmen Ecken würde auch er nicht fahren. Was ich sehe ist schon ungewohnt als Deutscher. Strassen kaum mehr unter Staub und Rissen zu erkennen. Gehweg gleich Mülltonne. Häuser zunehmend aus Holz zusammengetragen. Wir gehen durch einen inoffiziellen Markt mitten auf der Strasse. Hier wird verkauft was man hat um sich sein Leben zu finanzieren oder um sich ein Zubrot zu verdienen. Hier kauft wer sich einen Supermarkt nicht leisten kann. Verkauft wird alles: gebrauchte Kleidung, vieles noch aus den 70ern, Kassetten, Schlösser, Türklinken, Waschbecken. Alles was irgendjemanden fehlt – und ich meine damit nicht die Käufer!!! Gorki kauft auch ein, nicht weil er muss, sondern weil er sparen will. Gorkis Vater kauft Holzlatten, weil er sparen muss. Er wird sie kaum verbauen, er ist schon sehr alt. Danach geht’s auf den Gemüsemarkt, auf dem alle Klischees erfüllt werden, vom Schreihals zu den Hühnern in den Käfigen. Nach ein paar Stunden geht es wieder heim, Bilder habe ich keine gemacht, es wäre nicht angebracht gewesen. Muss man eh selbst sehen. Abendessen gibt’s bei Gorkis Vater, Gorki kocht. In Chile kochen Männer aus seines Vaters Generation nicht, die Würde verbietet das überkommen dieser Schwäche. Es gibt Thunfischtortilla, sehr lecker, danach Kaktusfrucht (hatte gestern Abend meinen letzten Durchfall, das Essen war am Samstag). Gorkis Vater ist im Paradies, sein Sohn und ein Gast aus Europa, in seinem Haus! Dazu noch jemand der den Mapuche Englisch beibringen soll. Er ist Mitglied in einer Organisation die den Mapuche helfen will. Abends gibt es noch eine Dokumentation über die Unterdrückung der Mapuche, von 2004. Höchst interessant! Das wahre Abenteuer kommt noch sei hiermit gesagt! Als ich heimfahre, empfinde ich das Viertel als weniger Arm, als weniger gefährlich, denn wer weiß was noch kommt… Gorkis Vater vielleicht, er kennt die dunkle Seite. Die Tage werde ich ihn nochmal besuchen. Freu mich schon auf seine Freude!
Gleich noch schnell ein Nachtrag:
Ich bin doch tatsächlich Zeuge geworden wie zwei Chilenen einer Frau und ihrem Mann hier im feinen Providencia vom Rad „helfen“ wollten. Schon krass: Ein Schrei, die Frau fällt, die Passanten prügeln auf den Dieb ein, er flüchtet auf die Straße, sein Komplize die Straße entlang. Dann sind sie weg, die Räder Gott sei Dank nicht. Die Leute auf der anderen Straßenseite schauen noch etwas entgeistert, unter ihnen kann man auch mich finden (wenn man genau hinschaut! 😉 ). Jetzt weiß ich aber auch warum an jeder zweiten Straßenkreuzung ein Pärchen mit gelber Reflektorjacke steht. Das sind die, die aufpassen sollen, dass nichts passiert und dann im Ernstfall einen Tick zu spät dran sind. Die Anzeige gegen einen unbekannten Chileno der ausgesehen hat wie alle Gaffer hier (außer mir! 🙂 ) können sie aber gerne noch aufnehmen. Den fahlen Nachgeschmack der Angst wäscht das aber nicht aus.